Ich habe persönlich miterlebt, wie arrogant, rücksichtlos und manchmal sogar aggresiv manche Zeitgenossen in ihrem Verhalten angesichts der Corona-Pandemie und der COVID-19-Fälle sind. Ich habe einige Jahre im Gesundheitswesen im Controlling gearbeitet. Ich weiß um Schwächen von Zahlen, aber ich weiß auch um die Stärke von darauf berechneten Szenarien. Denn Szenarien dienen dazu, Handlungsoptionen auszuloten und auf Basis von tatsächlichen Entwicklungen sich zu entscheiden. Gerade deswegen sehe ich die Entwicklung der Zahlen mit starken “Bedenken” und angesichts des Verhaltens vieler Menschen bis hin mit einer gewissen Wut.
Denn Szenarien dienen dazu, Handlungsoptionen auszuloten und sich auf Basis von tatsächlichen Entwicklungen zu entscheiden. Ich habe ein vereinfachtes Szenario auf Basis vorhandener Zahlen von der Bundesoberbehörde Robert-Koch-Institut (RKI) und dem DIVI Intensivregister erstellt. Ich habe die Zahlen genommen und überlegt: Was wäre, wenn die Entwicklung der letzten Woche die nächsten 3 Wochen weiter geht? Wie entwickeln sich die täglichen Fallzahlen und die täglichen Todesfallzahlen?
Mit dem ermittelten Szenario im Hinterkopf habe ich mir die Belegung der Intensivbetten und den Anteil der Invasivbehandlungen angeschaut. Da musste ich nicht mehr groß rechnen.
Die Zahlen des RKI habe ich aktualisiert und die Vorschau der Fälle und Todesfälle bis Anfang Dezember fortgeschrieben, siehe weiter unten.
Inhaltsverzeichnis
Zahlen des RKI
Das Robert-Koch-Institut (RKI) gibt nicht nur irgendwelche Zahlen in irgendwelchen Pressekonferenzen oder Meldungen heraus. Jeder kann sich Daten herunterladen, meist als CSV- oder Exceldatei. Beispielsweise die Exceltabelle “Gesamtübersicht der pro Tag ans RKI übermittelten Fälle, Todesfälle und 7-Tages-Inzidenzen nach Bundesland und Landkreis” (Link führt zur Downloadseite).
Die Tabelle gibt eine Gesamtübersicht der pro Tag ans RKI übermittelten Fälle und Todesfälle (seit Februar 2020) und 7-Tages-Inzidenzen nach Bundesland (seit Mai 2020) und Landkreis (seit 19.10.2020).
Die Tabelle wird arbeitstäglich aktualisiert und hat mehrere Tabs (Register). Eines davon ist das Register “Fälle-Todesfälle-gesamt”, in dem diese Daten für seit März diesen Jahres stehen:
- Berichtsdatum
- Anzahl COVID-19-Fälle: Kumuliert, d.h. die letzte Zeile gibt die Anzahl der insgesamt gemeldeten COVID-19-Fälle an.
- Differenz Vortag Fälle: Ein berechneter Wert (Anzahl COVID-19-Fälle des aktuellen Tages minus Anzahl COVID-19-Fälle des Vortages)
- Todesfälle: Kumuliert, d.h. die letzte Zeile gibt die Anzahl der insgesamt gemeldetet Todesfälle an.
- Differenz Vortag Todesfälle: Ein berechneter Wert (Todesfälle des aktuellen Tages minus Todesfälle des Vortages)
- Fall-Verstorbenen-Anteil: Todesfälle geteilt durch Anzahl COVID-19-Fälle.
- Fälle ohne Todesfälle
Der Fall-Verstorbenen-Anteil erscheint mir zunächst recht “künstlich”, denn es gibt den Anteil der Verstorbenen insgesamt wieder. Da zu Beginn der Pandemie alles ziemlich unklar und teilweise chaotisch war, war der Anteil sehr hoch. Gesundheitssystem, Krankenhäuser und Ärzte waren überrascht, und es starben viele Patienten. Inzwischen ist die Versorgung viel besser geworden, und nach und nach im Gesamtablauf wird diese Prozentzahl niedriger, bis sie sich irgendwann einer aktuellen Todesfallrate bezogen auf die vor etwa 3 bis 4 Wochen zuvor Erkrankten bezieht. Derzeit (3.11.20) liegt der Fall-Verstorbenen-Anteil bei 1,9 Prozent.
Die Werte von Freitag bis Sonntag sind regelmäßig niedriger, dann kommt wieder ein “Hammerwert” am Montag. Das ist sowohl bei den COVID-19-Fällen, als auch bei den Todesfällen in einer “Sägezahn-Grafik” sehr gut zu erkennen. Das hat wohl mit den Berichtswegen und -möglichkeiten zu tun und ist aber insofern positiv, als der Effekt sehr gut und regelmäßig nachzuvollziehen und gedanklich in die Zukunft zu projizieren ist.
Wer zum “Fall” wird, stirbt erst Tage oder in der Regel Wochen später. Würde ich heute an COVID-19 erkranken und wollte ich wissen, wie meine Überlebenschancen sind, dann würde ich wissen wollen, wie viel von den vor etwa 3 – 4 Wochen Erkrankten überlebt haben. Die Zeit bis zum Tod ist aber sehr variabel, und ich sehe für mich keine einigermaßen plausible Berechnung für diesen Anteil.
Mein Szenario
Ich habe zunächst die Exceldatei heruntergeladen, und dann dieses Register in eine eigene Exceltabelle kopiert. Dann habe ich für ein Szenario zusätzliche Spalten und Zeilen eingefügt.
- Erhöhung: Prozentuale Erhöhung des aktuellen Tageswertes “Differenz Vortag Fälle” im Vergleich zum Vortag. Der Wert schwankt je nach Wochentag stark (s.o.), bleibt doch im Zeitverlauf im Groben einigermaßen stabil.
- Vorschau Fälle Differenz: Hier nehme ich die Prozentuale Erhöhung vom Tag eine Woche zuvor (d.h. denselben Wochentag vor einer Woche) und berechne aufgrund dieser Steigerung den Wert für den neuen Tag. Das schreibe ich für 3 Wochen fort. Das ist eine sehr, sehr starke Vereinfachung, weil es einerseits in der Vergangenheit immer wieder Schwankungen gab. Andererseits steigen jetzt die absoluten Zahlen, und Abweichungen wirken sich da sehr stark aus. Aber einerseits wollte ich die Formel zur Nachvollziehbarkeit möglichst einfach halten, und andererseits habe ich einfach nicht die Zeit, ein Modell zu entwickeln, das realistischer ist. Von der heutigen Steigerung von 15.352 COVID-19-Fällen im Vergleich zu gestern steigt dieser Wert bis zum 24. November auf 37.404 Fälle (Montagswert!), mit einem Maximum von 46.436 Fällen vor dem Wochenende.
- Vorschau Fälle: Mit den täglichen Werten der “Vorschau Fälle Differenz” habe ich den kumulierten Wert fortgeschrieben. Der Wert steigt von derzeit gemeldeten 560.379 auf berechnete 1.181748 COVID-19-Fälle am 24. November. Also nahezu eine Verdopplung in 3 Wochen.
- Vorschau Differenz Todesfälle: Ich beziehe den Verstorbenenanteil auf die Tageswerte (d.h. “Differenz Vortag Todesfälle” geteilt durch “Differenz Vortag Fälle”). Derzeit beträgt der Anteil knapp 1 Prozent. Der war in den ruhigen Sommermonaten niedriger und in den hektischen Zeiten zu Beginn höher.
Als “Daumenwert” für ein Szenario habe ich mich auf den Wert vom 3.11. festgelegt (ca. 0,85 Prozent).Korrektur: Als “Daumenwert” habe ich vom Vortag den Anteil der “Vorschau Differenz Todesfälle” an der Anzahl der “Vorschau Fälle Differenz” auf den Folgetag angewendet. Das ist nicht optimal, aber eben ein Daumenwert. Auch diesen “täglichen Todesfallwert” habe ich für die nächsten 3 Wochen hochgerechnet. Für heute waren es 131 COVID-19-Todesfälle. Mit meiner zugegebenermaßen “Daumenrechnerei” steigt der Wert bis in 3 Wochen auf über 300, teilweise fast 400 tägliche Todesfälle. Nachtrag: Eigentlich müsste ich die Steigerungsrate nicht auf die (Infektions-)Fälle, sondern auf die Steigerungsrate der Todesfälle (d.h. bezogen auf den Wochentag der Vorwoche) anwenden.
Das tabellarische Szenario habe ich in zwei Grafiken gefasst. Beide verdeutlichen besser als nackte Zahlen die dramatische Entwicklung.

Wenn es so wie in der letzten Woche weitergeht, werden wir in nur 3 Wochen täglich über 46.000 gemeldete COVID-19-Fälle haben. Jetzt bereits mit noch deutlich unter 20.000 Fällen sind Gesundheitsämter teilweise überm Limit, Krankenhäuser und Ärzte oft nahe dran. Der erste “Höcker” ist übrigens die “Hochzeit” der ersten Corona-Welle.
Doch es sind nicht nur die Anzahl der Fälle und die wegfallende Möglichkeit der Kontaktverfolgung, die mich Schlimmes befürchten lassen. Mehr Fälle bedeuten mehr Erkrankte in unterschiedlichen Stadien. Auf Praxen, Medizinische Versorgungszentren und Krankenhäuser und vor allem deren Personal und Mitarbeiter wird ein Vielfaches der bisher Erkrankten zukommen. Und das wird auch Folgen für die Anzahl der Toten haben.

Wenn es so wie in der letzten Woche weitergeht, werden wir in nur 3 Wochen täglich über 300 COVID-19-Todesfälle haben. Und das wird nicht aufhören: Jemand, der in 3 Wochen als Fall gemeldet wird und tödlich an COVID-19 erkrankt, wird erst in 6 bis 7 Wochen (von jetzt an) sterben. Wenn sich nichts ändert, wenn wir nichts tun, werden wir Neujahr möglicherweise mit 800 oder 1.000 täglichen Toten “feiern”.
Doch wer soll diese Schwerkranken zuvor im Krankenhaus intensivpflegen?
Update (13.11.20): Aktualisierte und fortgeschriebene Grafik
Ich habe die Tabelle aktualisiert und die Vorschau-Werte bis Anfang Dezember fortgeschrieben. Es sieht besser aus als befürchtet. Vielleicht (hoffentlich!) greifen die Maßnahmen des “Lockdowns”. Vielleicht ist mein Modell zu einfach, die Wirklichkeit vollkommen sicher für die Zukunft abzubilden, kann es (und ich) sowieso nicht. Ich würde mich freuen, wenn ich so richtig daneben liege.


Intensivbetten in Deutschland
Das DIVI-Intensivregister dient der Echtzeit-Datenerfassung von Behandlungskapazitäten in der Intensivmedizin und aggregierter Fallzahlen für Deutschland. Es wird in Zusammenarbeit des DIVI e.V. (Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin) mit dem RKI (Robert Koch-Institut) als gemeinwohlorientiertes Projekt entwickelt und betrieben.
Beim DIVI-Intensivregister gibt es Listendarstellungen, Kartenansichten, Länder-Tabellen und Zeitreihen der Belegung und Kapazitäten der Intensivbetten sowie des Anteils mit COVID-19-Fällen in Behandlung und davon derer mit invasiver Beatmung. Es lassen sich sogar der aktuelle Status einzelner Krankenhäuser abrufen. In Deutschland mit Stand 3.11.20 12:00 Uhr:
- Fälle COVID-19 aktuell in Behandlung: 2.392
- Fälle COVID-19 aktuell invasiv beatmet: 1.256
- Prozentualer Anteil invasiv beatmeter COVID-19-PatientInnen: 52,51
- Intensivbetten aktuell belegt: 21.515
- Intensivbetten: aktuell frei: 7.241
- Gesamtzahl aktuell betreibbarer Intensivbetten: 28.756
- Notfallreserve: innerhalb von 7 Tagen zusätzlich aufstellbare Intensivbetten: 12.714
Das sieht zunächst schlecht für die Betroffenen, aber insgesamt noch gut aus. Zunächst aber eben nur insgesamt. Die Schwankungen sind sehr stark. Momentan ist in Bingen kein Platz, aber in Ingelheim. Gestern war in beiden kein Platz mehr. Auch ein Vergleich der Bundesländer (auch in der Karten-Ansicht) zeigt, dass es starke Unterschiede gibt. Die Anzahl der insgesamt freien Intensivbetten geht seit August stetig zurück,
Die Anzahl der mit COVID-19-Fällen belegten Intensivbetten steigt seit etwa 10 Tagen rasant. Am 1. August waren es 257 COVID-19-Fälle auf Intensiv., am 1. September 234, am 1. Oktober 362, am 15. Oktober 655.

Am 2. November waren 2.243 COVID-19-Fälle auf Intensiv. Heute um 12:00 Uhr waren 2.392 Fälle gemeldet (also 149 mehr innerhalb eines Tages), davon 1.256 mit Invasivbehandlung. Die Steigerungsrate von Tag zu Tag hat vor 10 bis 15 Tagen begonnen, sich zu verstärken. Derzeit steigen die gemeldeten intensivmedizinisch behandelten COVID-19-Fälle pro Tag um 8,8 Prozent. Wenn das so bleibt, haben wir in 3 Wochen über vierzehntausend intensivmedizinisch behandelte COVID-19-Fälle.
14.433 rechnerische Fälle (gesamt) minus derzeit 2.39 tatsächlichen Fällen wären ein Mehr an 12.041 intensivmedizinisch behandelten COVID-19-Fällen.
Wir haben aber nur noch 7.241 freie Intensivbetten für die Behandlung von COVID-19-Fällen.
Zwar haben wir für die fehlenden 4.800 Intensivbetten noch eine Notfallreserve (innerhalb von 7 Tagen zusätzlich aufstellbare) von 12.714 Intensivbetten. Doch:
- Hier geht es nur um Intensivbetten, nicht um diejenigen zur Invasivbeatmung. In drei Wochen werden über siebentausend COVID-19-Fälle (52,51 Prozent der über vierzehntausend Intensivbetten) invasivbeatmet werden müssen.
- Geplante schwere Operationen werden so wie zu Beginn der Pandemie wieder verschoben werden.
- Bereits seit Jahren bereits herrscht “Personalmangel: Intensivstationen am Limit“
- Nicht nur Die Berliner Charité und die Universitätsklinik in Frankfurt am Main haben vor einem Personalmangel auf Intensivstationen bei der Bekämpfung der Coronapandemie gewarnt.
- Die Pflege eines Corona-Patienten ist sehr aufwändig (“Ein Pfleger gibt Einblick in die Intensivstation So aufwändig ist die Pflege eines Corona-Patienten“), auch ist Personal dafür nicht “mal schnell eingewiesen”. Selbst wenn noch reguläres Personal dafür da wäre.
Deswegen bin ich für einen Corona-“Lockdown”
Mein Szenario für in 3 Wochen:
- Täglich über 46.000 COVID-19-Fälle.
- Fast insgesamt 1,2 Millionen Fälle seit Ausbruch.
- Täglich nahezu 400 COVID-19-Todesfälle.
- Über 14.000 intensivmedizinisch behandelte COVID-19-Fälle., davon die Hälfte invasivbeatmet.
- Intensivpflege und Invasivbeatmung wird Mangelware, insbesondere aufgrund fehlenden Personals. Nachtrag: “Klinikum Karlsruhe verschiebt erste Operationen“.
- Corona-Tests werden aufgrund der Masse an tatsächlichen und möglichen Fällen ebenfalls zur Mangelware (Anstelle 16.000 angeforderten schafft Großlabor jetzt schon nur 12.000 Coronatests: “Unnötige Corona-Tests: Labordienstleister Bioscientia am Limit“).
Das hat nichts mit Glauben oder Panikmache zu tun. Es ist die Fortschreibung der aktuellen Entwicklung.
- Ändert sich an der Entwicklung, den Rahmenbedingungen und den Maßnahmen nichts, dann werden wir in diesem Szenario landen.
- Wenn der Virus einfach verschwindet, wenn es eine plötzliche Immunität der Bevölkerung gibt, dann wird dieses Szenario nicht eintreten.
- Wenn wir die Rahmenbedingungen für den Virus und die Ansteckung ändern (insbesondere Verringerung der Kontakte, oder mehr und engeren Kontakt mit anderen Menschen), dann wird dieses Szenario so nicht eintreten. Es wird eine andere Wirklichkeit eintreten, zum Guten oder zum Bösen hin.
An meiner Einschätzung zur “Versicherung” gegen den Corona-Virus hat sich nichts geändert. Die Vesicherungsraten sind gewaltig gestiegen, aber welch hohen Verluste wollen wir riskieren? Corona-Virus: Wie viel ist zu wenig, wie viel zu viel?
Deswegen bin ich für einen Corona-“Lockdown”
Triage
Im Übrigen lässt dieses Szenario auch erahnen, was im Falle einer immer mal wieder diskutierten “aktiven Durchseuchung” geschehen wird: Das Gesundheitssystem wird überlastet zusammenbrechen. Ärzte und andere Menschen werden mit einer Triage entscheiden müssen, ob eine Person dem Sterben überlassen wird, ob versucht wird, sie zu retten, oder ob sie möglicherweise von selbst überleben wird. Bei der Entscheidung werden beispielsweise Alter, Konstitution, Risikofaktoren und Erkrankungsgrad. Und, so fürchte ich, irgendwann auch der Geldbeutel.
Triage ([triːˈɑːʒ]), von französisch trier ‚sortieren‘, ‚aussuchen‘, ‚auslesen‘ (deutsche Bezeichnung auch Sichtung oder Einteilung), bezeichnet ein nicht gesetzlich kodifiziertes oder methodisch spezifiziertes Verfahren zur Priorisierung medizinischer Hilfeleistung, insbesondere bei unerwartet hohem Aufkommen an Patienten und objektiv unzureichenden Ressourcen. […]
Triage ist ein aus der Militärmedizin herrührender Begriff für die – ethisch schwierige – Aufgabe, etwa bei einem Massenanfall von Verletzten oder anderweitig Erkrankten darüber zu entscheiden, wie die knappen personellen und materiellen Ressourcen aufzuteilen sind.
(Seite „Triage“. In: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 2. November 2020, 20:10 UTC.)
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